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Zeitgeschichte Sie sucht sich einen Platz. Nimmt doch niemand Notiz von ihr. Im renovierten Kaffeehaus ist die Nichtraucherzone nicht mehr erkennbar. Ungewohnt hohl klingt der halbvolle Raum. Die glänzend geputzten kupfernen Haken, an denen sie den Mantel aufhängen will, stellen sich als für Zeitungshalter gedacht heraus. Die unverstörbaren Kellnergesichter wurden nicht ausgetauscht. Nicht, dass sie sie erkennen würde; dazu war sie zu lange nicht mehr da. Am kleinen runden Tischchen sitzt es sich wenig bequem. Der zentrale Sockel lässt nur seitlich das weite von sich Strecken der Beine zu. Immer wieder ist aufzupassen, niemanden am Vorbeigehen zu hindern. Eine ältere sportlich wirkende Pensionistin am Tisch vis à vis trinkt mit einem Strohhalm ihr zweites Glas frisch gepressten Orangensaft. Der Schnürverschluß ihres knallroten Pullovers täuscht eine Nähe zur Trachtenkleidung vor. Der Kellner bringt mit der nur nötigsten Höflichkeit die Bestellung. Sie sucht sich eine Zeitschrift aus. Sie will die Zeit nicht vertreiben, hat das Gefühl, sie nützen zu müssen. Draußen glänzt die Straße im Licht der kürzlich eingeschalteten Autoscheinwerfer. Sie schaut auf die Uhr, zur Sicherheit auch auf das Handy, dessen Klingelton sie abgeschalten hat. Es wird noch dauern, bis er kommt.
Jetzt hat sie Zeit für sich. Jetzt ist sie endlich wieder alleine in der Stadt, die längst nicht mehr fremd ist, aber immer wieder gewöhnungsbedürftig. Mit seinen Augen hat sie sie sehen gelernt. Und als sie sie kannte, später, noch mit anderen Augen, die sie dort kennen lernte. Nun, da die eigenen Augen geöffnet sind, ist der Reiz nicht dauerhaft. Ihre Gedanken schweifen ab zum duftenden Herbstwald auf den sanften Hügeln hinter ihrem Haus, und von dort zu einem Ausblick über eine Meeresbucht mit verstreuten Findlingen. Dort gehörte die Zeit ihr. Ungeschminkt, ungeschmückt im endlosen Atmen auf und ab. Er kommt herein. Sie begrüßen sich mit einem flüchtigen Kuss. Sie zeigt ihm eine interessante Leuchte in der Designerzeitschrift. Sie reden animiert und trinken noch einen Kaffee. Bald werden sie in die Stadt aufbrechen. |
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(2004)
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